30.10.2014

Lawrence Block – Ruhet in Frieden

(«A Walk Among the Tombstones», William Morrow and Company, New York, 1992)

Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb

2014, Heyne Taschenbuch, 361 Seiten
(deutsche Erstausgabe: «Endstation Friedhof», Heyne, 1994)

****1/2


Vorbemerkung
Welche Freude: ein neuer Titel des grossartigen New Yorker Autors Lawrence Block. Von den 1970er bis in die späten 1990er Jahre sind seine Werke regelmässig auch auf Deutsch erschienen, seither nur noch ein paar vereinzelte Titel.
Welcher Frust nach dem ersten Blick ins Buch: der Inhalt dieses Buches steht schon seit zwanzig Jahren in unserem Regal, allerdings unter einem anderen Titel: «Endstation Friedhof».
Auf dem Cover der neuen Ausgabe ist der Schauspieler Liam Neeson zu sehen, und ein Kleber verkündet: «Jetzt im Kino.» Darum also die Neuausgabe.

Bleibt zu hoffen, das der Verlag (oder andere Verlage) dank dieser Neuausgabe merken, dass es da einen tollen Autor gibt, von dem zahlreiche Werke auf eine Übersetzung warten.

Der erste Satz
Am letzten Donnerstag im März, irgendwann zwischen halb elf und elf Uhr vormittags, sagte Francine Khoury zu ihrem Mann, sie müsse kurz weg, ein paar Sachen besorgen.

Das Buch
Francine Khoury kehrt nicht zurück. Sie ist entführt worden. Da Khoury im Drogengeschäft ist, will er sich nicht an die Polizei wenden. Doch sein Bruder kennt von den Treffen der Anonymen Alkoholiker Matthew Scudder, Ex-Cop und Privatdetektiv ohne Lizenz.
Scudder ist der Held (und Ich-Erzähler) in 17 Romanen von Lawrence Block. Die Plots sind da zwar nicht unwichtig, aber das Faszinierendste ist die Entwicklung des mit seinen Dämonen kämpfenden Protagonisten durch die ganze Romanreihe hindurch. Scudder, der nach einem fatalen Fehlschuss zu trinken begann, ist in seinem Denken wie im Handeln eine vielschichtige Figur. Er folgt seiner eigenen Moral, die nicht mit den gesetzlichen Vorgaben übereinstimmen muss. Romane, in welchen der Held auch mal ein bisschen räsonieren und philosophieren darf, statt dass die Handlung zügig vorangetrieben wird, können schnell einmal nerven. Nicht so aber die Romane von Lawrence Block, deren Melancholie oft wie ein Sog wirkt. Und nirgendwo sonst erfährt man so viel über Alkoholiker wie in den Scudder-Romanen, in denen man viele AA-Treffen erlebt.

Ich wurde aufgerufen und sagte: «Ich heisse Matt und ich bin Alkoholiker. Ich bin ein paar Jahre nüchtern, und viel hat sich in meinem Leben geändert, seit ich das erste Mal durch diese Türe reingekommen bin, und manchmal vergesse ich, dass ich immer noch ganz schön im Arsch bin. Ich durchlaufe in meiner Beziehung gerade eine kritische Phase, und bis vor kurzem habe ich das gar nicht gemerkt. Bevor ich hierherkam, hatte ich ein schlechtes Gefühl, und ich musste mich erst fünf Minuten unter die Dusche stellen, um rauszukriegen, was ich eigentlich fühlte. Aber dann wurde mir klar, dass es Angst war. Ich fürchte mich.
Ich weiss allerdings nicht, wovor ich mich fürchte. Ich habe das dumpfe Gefühl, wenn ich mich gehenlasse, werde ich feststellen, dass ich mich vor allem und jedem auf der Welt fürchte. Ich fürchte mich, eine Beziehung zu haben, und ich fürchte mich, keine zu haben. Ich fürchte ich davon, dass ich eines Tages aufwache und einem alten Mann in die Augen sehe, wenn ich in den Spiegel schaue. Dass ich eines Tages allein in meinem Zimmer sterbe und erst entdeckt werde, wenn der Gestank durch die Wände dringt.
Also habe ich mich angezogen und bin hierhergekommen, weil ich nicht trinken will und weil ich mich nicht so fühlen will, und nach all diesen Jahren weiss ich noch immer nicht, warum es hilft, sich den ganzen Dreck von der Seele zu reden, aber so ist es nun mal. Danke.»

Wer meint, ein Krimi könne keine «richtige» Literatur sein, könnte sich, wenn er denn wollte, von Lawrence Block eines Besseren belehren lassen. Und dabei sind diese Romane immer auch «richtige» Krimis.


Der Autor
Lawrence Block, *1938 in Buffalo, New York, zählt zu den besten Krimiautoren der USA. Seit Anfang der 1960er Jahre hat er über 50 Romane veröffentlicht, einen Teil davon unter Pseudonymen (Jill Emerson, Paul Kavanagh, Sheldon Lord, Andrew Shaw u.a.). Neben der Matthew-Scudder-Reihe ist vor allem auch die witzige Serie mit dem Buchhändler und Einbrecher Bernie Rhodenbarr bekannt. Seine Werke sind vielfach preisgekrönt.

Der letzte Satz

«Könnte sein, dass wir das tun», sagte ich. «Würde mich jedenfalls nicht wundern.»


28.10.2014

Don Winslow – Missing. New York

(«Missing. New York», Alfred A. Knopf, New York, 2014
[steht so in der deutschen Ausgabe, ich finde aber weder bei Knopf noch sonstwo in den USA einen Hinweis darauf, dass dieses Buch dort erschienen wäre])

Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte

2014, Droemer Verlag, München, 395 Seiten

**1/2

Der erste Satz
Der Morgen in Manhattan kam mit dem Poltern und Zischen eines Müllautos, das die Sünden der Nacht bereinigte.

Das Buch
Don Winslow is back. Oder wenigstens auf dem Weg dazu. Nach dem unsäglichen Action-Thriller «Vergeltung» findet der Autor des Meisterwerks «Tage der Toten» (*****) zurück zu wenigstens etwas besserem Stoff.

Mit Frank Decker lässt Winslow zum ersten Mal seine Hauptfigur aus der Ich-Perspektive erzählen. Frank Decker ist Detective bei der Polizei in Lincoln, Nebraska; die Kollegen nennen ihn Deck. Ein fünfjähriges Kind wird entführt (in Beiträgen über dieses Buch steht meistens, das Kind sei sieben gewesen – diese Autoren haben offenbar das Buch nicht gelesen und den Fehler vom Klappentext abgeschrieben). Das Kind wird nicht gefunden, Decker, der wortkarge Cop, der seine Arbeit sehr ernst nimmt, ist überzeugt, dass das Mischlingsmädchen Hailey entführt wurde und noch lebt. Doch als ein paar Tage später ein anderes Mädchen in der Stadt verschwindet und tot aufgefunden wird, gehen die Behörden davon aus, dass dieser Täter, den Decker dingfest macht, auch für die das Verschwinden von Hailey verantwortlich ist.
Decker glaubt das nicht. Er schmeisst sowohl seinen Job bei der Polizei samt den Karrierechancen wie auch seine Ehe mit einer Wirtschaftsanwältin hin und verschreibt sich der Suche nach Hailey.
Weil ein Einzelner die Freiheit hat, zu tun, was getan werden muss.
Er schuldet keinem Rechenschaft, ausser sich selbst.
Mit der Corvette Stingray Jahrgang 1974, die ihm sein Vater hinterlassen hat, fährt Deck, begleitet von den Songs von Bruce Springsteen kreuz und quer durchs weite Amerika, jagt jedem Hinweis hinterher. Doch keiner führt wirklich weiter. Erst nach mehr als einem Jahr erhält er einen vielversprechenden Tipp. Um damit weiterzukommen, muss er sich mit schwierigen Zeitgenossen herumschlagen.
Ich weiss, man soll Minderheiten nicht hassen, aber ich hasse Speed-Junkies. Tut mir leid, ich kann nicht anders. Neben einem Speed-Junkie sieht ein echter Junkie aus wie Bill Gates. Speed-Junkies haben so viel Hirnsubstanz verbrannt, dass sie für den Kongress kandidieren und gewinnen können.
Die Spur führt Deck nach New York. Zu den Reichen und Schönen, die im Sommer gerne in die Hamptons fahren. Und die natürlich alles andere als ehrbar sind.
«Missing. New York» ist eine harte Story, mit ordentlich Drive erzählt, mit vielen stimmigen Dialogen, die zum Markenzeichen von Winslows Schreibe gehören. Manchmal blitzt auch etwas von seinem lakonischen Humor auf. Doch gleichzeitig ist der Plot etwas gar simpel gestrickt, zu vieles ist absehbar, zu viele dumpfe Vorurteile werden bedient. Wenn wir mehr von Frank Decker lesen sollen, muss sich Winslow auf seine alten Qualitäten besinnen. Aber wir können uns jetzt immerhin auf die deutschen Ausgaben seiner 1990er-Serie mit Neal Carey freuen.

Der Autor
Don Winslow, * 1953 in New York City, gehört spätestens seit dem Meisterwerk «The Power of the Dog» (2005; deutsch 2010 als «Die Tage der Toten») zu den besten Autoren des Genres. Nach diesem Drogenkrieg-Epos brillierte er mit ein paar Südkalifornien-Surfer-Krimis, die auf Deutsch vor «Die Tage der Toten» erschienen sind. Nachdem seine Romane auf Deutsch bisher bei Suhrkamp erschienen sind, kommt die neue «Missing»-Serie mit Frank Decker bei Droemer heraus. Gleichzeitig kündigt aber Suhrkamp die Reihe mit dem Protagonisten Neal Carey, die im Original in den 1990er Jahren erschienen ist, an («London Undercover» im Januar 2015, «China Girl» im April 2015). Laut einem Tweet von Winslow soll in den USA als nächstes eine Fortsetzung von «The Power of the Dog» erscheinen.

Die letzten Sätze
Manche Leute verschwinden, weil sie es so wollen.
Manche gehen verloren.
Andere werden entführt.
Viele von ihnen sind tot, einige sind noch am Leben.
Aber alle brauchen sie einen, der nach ihnen sucht.
Und der bin wohl ich.


Lesung in Zürich
Don Winslow liest aus «Missing. New York», der Schauspieler Hanspeter Müller-Drossart liest die deutschen Texte, Thomas Bodmer unterhält sich mit Winslow: Dienstag, 11.11.2014, 20 Uhr, Kaufleuten, Zürich.