30.06.2017

Sophie Hénaff – Kommando Abstellgleis


(«Poulets grillés», Editions Albin Michel, Paris 2015). 


Aus dem Französischen von Katrin Segerer. 


Carl’s Books/Random House, München 2017, 349 Seiten



***




Der erste Satz
Anne Capestan stand vor ihrem Küchenfenster und wartete darauf, dass der Tag anbrach.

Das Buch
Commissaire Capestan ist suspendiert. Es geht um eine Schussabgabe, für die sie vom Disziplinarausschuss verwarnt wurde. Jetzt hat sie der Chef an den Quai des Orfèvres 36 bestellt. Was wird passieren? Entlassung? Versetzung in die Provinz? Nein, es kommt ganz anders: Ihr wird die Leitung einer neuen Brigade übertragen. Wo ist der Haken, fragt sich Anne Capestan. Die Brigade umfasse «nur die unorthodoxesten Beamten», erklärt der Chef. Was bedeutet: «Wir säubern die Behörde, um die Statistik aufzupolieren. Wir stecken alle Alkoholiker, Schläger, Depressiven, Faulpelze und so weiter, alle, die unsere Abteilungen behindern, aber nicht gefeuert werden können, zusammen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und zwar unter Ihrem Kommando.» Auf Capestans Frage, warum gerade sie dafür ausgesucht worden sei, antwortet der Chef trocken: «Sie haben als Einzige den Dienstgrad eines Commissaire. Im Normalfall kündigen sich die Pathologien schon vor dem Auswahlverfahren an.»
Rund 40 Beamte wurden der neuen Brigade zugeteilt. Aber nur wenige davon schauen vorbei in dem neuen Revier, das in einem Pariser Quartier weitab vom Schuss im 5. Stock eines Wohnhauses liegt. Ein paar bleiben aber und helfen dabei, die Akten von alten, ungelösten Fällen auf neue Ansatzpunkte durchzugehen. Einer gilt als Unglücksbringer, weil seine früheren Partner bei der Polizei ums Leben kamen; heute will keiner mehr mit ihm arbeiten. Ein anderer hat am Morgen schon eine Rotweinfahne. Eine Kollegin schreibt nebenher erfolgreich Drehbücher für TV-Krimis und hat die Arbeit eigentlich nicht nötig, aber sie ist gerne unter Kollegen und sucht immer Krimithemen. Eine Chaostruppe. Doch Anne Capestan wird vom Ehrgeiz gepackt und kann die Leute motivieren. Und dabei kann sie erst noch den Chefs im Präsidium auf die Zehen treten.
Die Pariser Journalistin Sophie Hénaff serviert in ihrem ersten Roman «Kommando Abstellgleis» keine schwere Kost. Doch sie erzählt die Geschichte von Anne Capestans Aussenseiterbrigade mit Witz und Charme. In den grossen Fall, auf den sich die Truppe einschiesst sind hohe Polizeibeamte verwickelt. Der Plot wirkt streckenweise etwas verworren, was die Autorin mit Humor wettmacht. So funktioniert Hénaffs Debüt durchaus als leichte Sommerlektüre – am besten im TGV nach Paris.
Im Original heisst der Roman übrigens «Poulets grillés». Poulet, also Hähnchen, ist in Frankreich auch eine umgangssprachliche Bezeichnung für einen Polizisten, vergleichbar dem deutschen Bulle. Dem deutschen Verlag ist dafür nur der Deppentitel «Kommando Abstellgleis» eingefallen. Und die auf Oktober angekündigte Fortsetzung heisst plump «Das Revier der schrägen Vögel».

Die Autorin
Sophie Hénaff, *1972, ist Journalistin bei der französischen Ausgabe des Frauenmagazins «Cosmopolitan», wo sie insbesondere für ihre witzige Kolumne «La Cosmoliste» bekannt ist. «Poulets grillés» («Kommando Abstellgleis») ist ihr erster Roman. Im Oktober erscheint die Fortsetzung «Rester groupés» unter dem Titel «Das Revier der schrägen Vögel» auf Deutsch.




22.06.2017

Ken Bruen – Brant


(«Blitz», The Do-Not Press, London 2002). 

Aus dem Englischen von Len Wanner. 

Polar Verlag, Hamburg 2017, 251 Seiten

****½





Der erste Satz
Der Psychiater starrte Brant an.

Das Buch
Zuerst einmal serviert Brant den Polizeipsychiater ab, und dies ziemlich brutal und hinterfotzig. Dann muss Detective Sergeant Brant seinem Chief Inspector beistehen, dessen Frau eben bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Brant hat da auch ein bisschen Grund zum Trauern, hatte er doch ein Techtelmechtel mit der Verunfallten. Die Trauer der beiden Polizisten führt zu einem grösseren Besäufnis, aus dem Brant, als harter Hund berüchtigt, schneller wieder auftaucht als Roberts.
Ein Irrer, der berühmt werden will und sich mit Wodka und Red Bull aufputscht, dem «Kokain des einfachen Mannes», hat derweil begonnen, Londoner Polizisten umzubringen. Bei Falls, einer schwarzen Kollegin von Brant, schafft es der Copkiller nicht, er erwischt nur den mit ihr befreundeten Skinhead, der dazwischen geht. Vom rassistischen, sexistischen Superintendenten nach Brixton versetzt, verfällt Falls dem Koks, das sie Dealern abnimmt. Und der Dumpfbacke des Reviers fällt ein fälschlicherweise verfolgter Buchhalterlehrling im dritten Stock aus dem Fenster. Wer die Kollegen umbringt, wissen die Polizisten bald, anklagetaugliche Beweise fehlen aber. Doch es gibt ja auch andere als rechtsstaatliche Methoden.
Ziemlich irrwitzig und wüst, gleichzeitig aber auch sehr munter geht es zu und her im jetzt auf Deutsch erschienenen Krimi «Brant». Es ist der vierte Band einer siebenteiligen, auf Englisch von 1998 bis 2007 erschienenen Reihe des Iren Ken Bruen; auf Deutsch gibt es bereits zwei spätere Titel («Kaliber» und «Füchsin», Polar Verlag).
Brant ist ein ziemlicher Kotzbrocken, der seine sentimentale Seite öffentlich gut verbirgt. Er bescheisst, wo er kann, er lügt, spinnt Intrigen. Sein Prinzip: möglichst gegen jede und jeden, ob Freund oder Feind, etwas in der Hand haben, um sich Vorteile zu verschaffen. Und er liebt die Polizeiromane des Amerikaners Ed McBain. Wogegen gar nichts einzuwenden ist. Ken Bruen zeigt sich in seinen Romanen immer wieder als sehr belesen, insbesondere auch als Kenner der Kriminalliteratur. Und oft auch als Liebhaber melancholischer Musik, ob von irischen Bänkelsängern oder amerikanischen Hillbillys.
Der 66-jährige Ken Bruen ist einer der herausragenden aktiven Vertreter der Crime-Noir-Schule. Als «Noir» werden Krimis der eher düsteren Art bezeichnet, bei welchen nicht am Schluss ein Fall sauber gelöst, der Täter gefasst und damit die Welt wieder in Ordnung ist. Romane auch, die sich nicht selten um existenzielle Fragen drehen
Bruen erzählt seine Geschichten gleichzeitig beinhart und hochkomisch, in einer direkten, rauen Sprache. Und er tut das so brillant, dass einem als Leser selbst ein Typ wie Brant nahegeht und fast schon sympathisch wird. Klar, dass die rabenschwarze Story über die Jagd auf den durchgeknallten Polizistenmörder ein wüstes Ende findet.

Der Autor

Ken Bruen, *1951 in Galway, Irland, hat seit 1993 mehr als 30 Bücher veröffentlicht. Im deutschen Sprachraum ist er vor allem für seine schräge Serie um den irischen Ermittler Jack Taylor (12 Bände, 9 davon übersetzt von Harry Rowohlt im Atrium Verlag erschienen) bekannt, die Vorlage für eine TV-Serie war. Sehr lesenswert sind aber auch die drei zusammen mit dem amerikanischen Autor Jason Starr geschriebenen Romane um Max Fischer und Angela Petrakos (2006 bis 2008; Deutsch bei Rotbuch erschienen) und überhaupt alles, was er geschrieben hat und noch schreibt. Alles sehr schwarz, sehr witzig, sehr gescheit.












Barry Eisler – Der Schrei des toten Vogels

«Livia Lone», Thomas & Mercer, 2016) 

Aus dem Amerikanischen von Peter Friedrich. 

AmazonCrossing, Luxemburg 2017. 409 Seiten


****








Der erste Satz
Billy Barnett war scharf auf die asiatische Kleine, die neben ihm in der Bar bei Ray’s stand.

Das Buch
Barnett wird die Nacht nicht überleben. Denn die ziemlich aufgedonnerte Asiatin, die er aufzureissen glaubt, hat es auf ihn abgesehen. Livia Lone, Detective in Seattle mit Spezialgebiet Sexualverbrechen, ist auf privater Mission unterwegs. Sie tötet den Vergewaltiger, um auf seiner Beerdigung die Handys der Mitglieder der Hammerheads-Bande, zu der er gehörte, orten und identifizieren zu können. Denn demnächst kommt der Hammerhead aus dem Knast, der bei einer Lieferung einer Containerladung von Menschen aus Asien vor 16 Jahren verhaftet worden war. Livia war damals 13-jährig und mit ihrer kleinen Schwester in jenem Container von Menschenhändlern aus Thailand in die USA verschifft worden. Seither will sie wissen, was aus ihrer Schwester geworden ist. Und sie will Rache. Über den Hammerhead will sie den Auftraggebern auf die Spur kommen.
Barry Eisler erzählt die Geschichte von Livia in seinem Thriller «Der Schrei des toten Vogels» in Rückblenden: Wie sie von ihren Eltern verkauft wurde, nach Amerika kam, hier adoptiert und missbraucht wurde, als junge Kampfsportlerin Erfolg hatte. Und wie sie erkannte, dass ihre Berufung in der Polizeiarbeit lag: «Sie wollte eine Waffe tragen. Und die Monster nicht vor Gericht stellen, sondern jagen. Hetzen. Erwischen. Ihnen Handschellen anlegen und sie für immer ins Gefängnis stecken. Oder zwei Meter tief unter die Erde bringen.»
Knallhart und packend erzählt Eisler die Geschichte, die zwar frei erfunden sein mag, aber, wie so oft bei diesem politisch und sozial engagierten Autor, auf Fakten beruht. Im Anhang gibt es als Quellenangaben eine Liste von Sachbüchern über Verbrechen, wie sie im Buch vorkommen: Menschenhandel, Sexualdelikte.
Der Bestsellerautor, der früher Anwalt war, gibt seine Bücher seit mehreren Jahren via Amazon selbst heraus (sein Original-Verlag Thomas & Mercer ist eine Amazon-Tochter) und verteidigt den internationalen Online-Buchgiganten auch gegenüber der Kritik von Kollegen: «Amazon hat im Alleingang einen Markt für selbstständige Autoren geschaffen.» Dass seine Bücher über den traditionellen Buchhandel wenn überhaupt nur schwierig erhältlich sind (eine Zürcher Buchhandlung zum Beispiel bietet «Der Schrei des toten Vogels» mit einer Lieferfrist von drei Wochen zum fast dreifachen Amazon-Preis an), stört Eisler nicht. Er findet auch so seine Leser. Weil er es versteht, politische und soziale Themen in atemberaubende Thriller zu packen, ohne jemanden damit zu langweilen. Dass seine Protagonisten dabei manchmal ein bisschen an phänomenale Superhelden erinnern, verzeiht man da gerne.

Der Autor
Barry Eisler, *1964 in New Jersey, arbeitete nach dem Studium als verdeckter Agent bei der CIA und war danach im Silicon Valley und in Japan als Fachanwalt für Technologie und als Manager für Unternehmungsgründungen tätig. Ab 2002 machte er mit seiner acht Bände umfassenden Thriller-Reihe um den amerikanisch-japanischen Auftragskiller John Rain («Tokio Killer») als Autor Furore. Die ursprünglich bei Scherz und als Fischer Taschenbücher erschienen Titel der Reihe wurden inzwischen auf Wunsch des Autors mit neuen Titeln bei AmazonCrossing neu aufgelegt. Eisler, der in der Bay Area von San Francisco lebt, bloggt unter dem Titel «The Heart of the Matter» engagiert über Bürgerrechte, Folter und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.





11.06.2017

Daniel Cole: Ragdoll – Dein lezter Tag


(«Ragdoll», Orion Books, London 2017). 

Aus dem Englischen von Conny Lösch. 

Ullstein Verlag, Berlin 2017. 477 Seiten

***½




Der erste Satz
Samantha Boyd duckte sich unter dem flatternden Absperrband durch und blickte zur Statue der Justitia oben auf der Kuppel von Old Bailey hinauf, dem berühmten Londoner Gerichtsgebäude.

Das Buch
Detective Sergeant William Oliver Layton-Fawkes, aus naheliegendem Grund Wolf genannt, hat nicht weit von seiner Wohnung zum Tatort. Er muss nur die Strasse überqueren, und er tut dies in Badehosen und einem ausgewaschenen Bon-Jovi-T-Shirt. Die Szenerie, die er um vier Uhr morgens im vierten Stock des Hauses gegenüber antrifft, ist ziemlich verstörend. Eine Leiche hängt so an Schnüren von der Decke, dass sie im Raum zu schweben scheint. Erst im Licht eines Scheinwerfers erkennt Wolf, dass es nicht eine Leiche ist: Der aufgehängte Körper ist aus Teilen von sechs Leichen zusammengenäht. Wie eine Flickenpuppe, ein Ragdoll. Ein Arm des Dings ist ausgestreckt, der Finger deutet zum Fenster – und exakt auf Wolfs Wohnung. Als der Detective dann auch noch den Kopf der Leichenpuppe erkennt, wird klar, dass das irgendwie persönlich wird.
Mit Serienkillerromanen ist es so eine Sache. Es gab ja durchaus ein paar gute, allen voran der bereits zum Klassiker dieses Subgenres avancierte «Der Poet» («The Poet», 1996) des amerikanischen Meisters John Connelly. Seither sind Dutzende, wahrscheinlich Hunderte von Serienmördergeschichten erschienen. Dabei versuchen die Autorinnen und Autoren Originalität zu beweisen, indem sie immer noch abstrusere Mordmethoden und -motive aushecken und Plots zusammenstiefeln, die weit entfernt von jeder Wirklichkeit sind. Als einer, der Kriminalliteratur ernst nimmt als Genre, das sich mit grundlegenden Fragen von Gut und Böse auseinandersetzt, kann ich mit solchen Märchenstunden für Erwachsene nicht viel anfangen. Dass ich dem Erstling des Briten Daniel Cole trotzdem eine Chance gab, liegt an der Übersetzerin: Conny Lösch gehört seit Jahren zu den besten Übersetzern nicht nur von Kriminalliteratur. Wenn ihr Name vorne im Buch steht, weiss ich, dass mir da kein Ramsch angedreht wird.
Wolf ist in den Polizeidienst zurückgekehrt, nachdem er suspendiert und in der Psychiatrie behandelt worden war. Ein Kindermörder, den er gefasst hatte, war von den Geschworenen freigesprochen worden, worauf Wolf ihn im Gerichtssaal angriff und umbringen wollte. Danach fiel Wolf tief, wurde in der Öffentlichkeit von Politikern wie Medien fertiggemacht; seine Frau, eine erfolgreiche TV-Reporterin, verliess ihn. Der freigesprochene Mörder wurde wenig später in flagranti beim Weitermorden erwischt, Wolf wurde halbwegs rehabilitiert. Der Kindermörder müsste jetzt eigentlich im Gefängnis sitzen. Doch es ist sein Kopf, der auf der zusammengestückelten Leiche sitzt.
Die Situation eskaliert, als der Killer Wolfs Ex nicht nur Fotos seiner menschlichen Flickenpuppe schickt, sondern auch eine Liste mit den sechs nächsten Opfern samt Todesdatum. Die Fernsehstation spielt das natürlich gross. Der Erste auf der Todesliste ist der Londoner Bürgermeister, der Letzte Wolf selber. Wieso gelingt es der Polizei nicht, diese Morde zu verhindern? Wie steckt Wolf da mit drin?
«Ragdoll» ist über die ganzen gegen 500 Seiten spannend, nimmt ein paar unerwartete Wendungen und serviert ganz schön aussergewöhnliche Morde. «Erinnerst du dich noch an die guten alten Zeiten, als man den Anstand besass, seine Feinde einfach zu erschiessen?», flachst ein Kollege Wolfs. Starke, oft witzige Dialoge und reichlich schwarzer Humor tragen zum Lesevergnügen bei. Viel mehr als durch die vordergründige Spannung fasziniert der Roman durch die sorgfältig gezeichneten Figuren. Diese – neben Wolf vor allem auch seine Kollegin Baxter –, sind innerlich zerrissen und voller Widersprüche. Und damit interessant genug, dass ich gerne mehr über sie lesen werde – «Ragdoll» ist der erste Teil einer auf drei Bände angelegten Serie um Detective Sergeant William Oliver Layton-Fawkes,

Der Autor
Daniel Cole, *1983, hat als Rettungssanitäter gearbeitet und war für den englischen Tierschutz (Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals, RSPCA) sowie den britischen Seenotrettungsdienst (Royal National Lifeboat Institution, RNLI) tätig. «Ragdoll» ist sein erster Roman; er hat für diesen und zwei weitere Romane um Wolf einen Buchvertrag und einen TV-Deal abschliessen können. Der Erstling wurde bereits in 34 Länder verkauft. Cole lebt in Bournemouth an der Südküste Englands.