11.08.2015

Barry Eisler – Grab der Erinnerungen

(«Graveyard of Memories», Thomas & Mercer, Seattle, 2014)

Aus dem Amerikanischen von Peter Friedrichs

2015, AmazonCrossing, Luxemburg, 420 Seiten


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Der erste Satz
Wenn ich in all den Jahrzehnten in dieser Branche eine Lektion gelernt habe dann diese: Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen einem harten Ziel und einem Normalbürger ist die Selbstbeherrschung.

Das Buch
Mit seiner «Tokio Killer»-Reihe um den japanisch-amerikanischen Auftragskiller John Rain hat Barry Eisler Massstäbe für das Profikiller-Subgenre gesetzt. Inzwischen hat er die sieben Romane bei einem Amazon-Imprint unter neuen Titeln neu herausgegeben; das gleiche tut er mit den deutschen Ausgaben. «John Rain – herrenloser Samurai» heisst die Reihe nun. Nachgeschoben hat er den jetzt erstmals vorliegenden Roman, der quasi ein Prequel der Reihe darstellt. Hier geht es um die Geschichte des jungen John Rain, darum, wie er zum Auftragskiller wurde. Rain erzählt dabei seine Geschichte rückblickend aus heutiger Sicht, aus der er auch seine Fehler und seine Fehleinschätzungen beurteilen kann. Er erzählt von seiner ersten grossen Liebe, die er ziehen lassen musste. Er sinniert darüber, was er richtig und was er falsch gemacht hat, über sein Leben ausserhalb aller Normen und jenseits aller Gesetze. In einer Schlüsselstelle heisst es:

Ich war zu jung, um zu begreifen, dass manche Erinnerungen nicht verblassen, nicht altern oder sterben. Dass die Last unserer Taten zusammenwächst, sich akkumuliert und verfestigt. Dass das Leben bedeutet, mit dieser allgegenwärtigen Bürde zurechtzukommen, sie zu tragen und zu akzeptieren. Sie begleitet einen jeden einzelnen Tag, bis man den Punkt erreicht hat, an dem es einem alle Energie kostet, nur um diese Last zu schultern. Und wenn man endlich bereit ist, diese Bürde abzulegen, geht das nur um den Preis, auch alles andere aufzugeben, alles was man je hatte oder noch hat oder was einem je bestimmt war. Man sollte lieber hoffen, dass es dann wirklich das Ende ist, denn niemand weiss, was danach kommt.

Trotz zahlreicher derartiger Reflexionen ist «Grab der Erinnerungen» nicht nur ein Roman, der in die Tiefe geht, sondern auch ein spannender Thriller. Der junge Rain, der nach seiner Rückkehr aus Vietnam als Schmiergeldbote für die CIA in Tokio arbeitet, wird von seinem Führungsagenten arg manipuliert und zum Mörder gemacht. Rain lernt schnell, und als ihm einiges klar wird, gehört dazu auch, dass er selbst auf der Abschussliste steht.
Wie oft in seinen Romanen dokumentiert Barry Eisler in einem Anhang, dass viele der politischen Vorkommnisse, die den Hintergrund der Geschichte bilden, nicht erfunden sind. Er versteht es hier einmal mehr, reale Ereignisse raffiniert mit der fiktiven Handlung zu verknüpfen.
Zwischen diesem Roman und der ersten «Tokio Killer»-Geschichte liegen immer noch zehn Lebensjahre von Rain, die Eisler literarisch nicht beackert hat. Man weiss darüber, dass Rain als Söldner in der Welt unterwegs war. Vielleicht gibt das ja mal einen weiteren Roman her. Ich würde ihn jedenfalls gerne lesen.

Der Autor
Barry Eisler, *1964 in New Jersey, arbeitete nach dem Studium als verdeckter Agent bei der CIA und war danach im Silicon Valley und in Japan als Fachanwalt für Technologie und als Manager für Unternehmungsgründungen tätig. Ab 2002 machte er mit seiner Thriller-Reihe um den amerikanisch-japanischen Auftragskiller John Rain (zunächst als «Tokio Killer» vermarktet, jetzt als «herrenloser Samurai») als Autor Furore. Die sieben auf Deutsch (bei Scherz und als Fischer Taschenbücher) erschienen Titel der Reihe werden derzeit auf Wunsch des Autors mit neuen Titeln bei AmazonCrossing neu aufgelegt; bisher sind die ersten drei Bände erschienen. Eisler, der in der Bay Area von San Francisco lebt, bloggt unter dem Titel «The Heart of the Matter» engagiert über Bürgerrechte, Folter und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.

Der letzte Satz
Und das, was man nicht fertigbringt.








Die ersten Neuausgaben der «John Rain – herrenloser Samurai»-Reihe (ursprünglich: «Tokio Killer»):




Die drei ersten Bände als eBook (Kindle):



05.08.2015

Ken Bruen – Kaliber

(«Calibre», St. Martin’s Minotaur, New York, 2006)

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

2015, Polar Verlag, Hamburg, 183 Seiten (mit einem Vorwort von Robert Brack: «Mit Worten zuschlagen»)


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Die ersten Sätze
Shit from Shinola. Heisst, der Trottel kann Scheisse nicht von Schuhwichse unterscheiden. Muss man den verdammten Amis lassen, die haben geile Sprüche drauf.

Das Buch
Schon lange nicht mehr so oft laut heraus-gelacht oder mindestens heftig gegrinst beim Lesen wie bei diesem starken Stück! Ken Bruen, der auch hier allein schon mit seinen kundigen Bezügen zu Kriminalliteratur und Musik (Americana-Melancholie von gestern bis heute) viel Freude macht, gibt Vollgas. Einen irren, aber belesenen Killer lässt er unter anderem so von der Leine:

Das ganze Zeug von Jonathan Franzen, Salman Rushide und so in euren Regalen, all die Möchtegern-Booker-Prize-Anwärter, die nur Staub ansetzen, der ganze ernsthafte Mist:
IN DIE TONNE.
Kommt schon.
Wenn ihr wissen wollt, wie die Welt tickt, holt euch Andrew Vachss.
Nicht intellektuell genug?
Holt euch James Sallis, da brennen euch die Synapsen durch. Oder, fürs wahrhaft Metaphysische, Paul Auster.
Krimis, Bro, sind der neue Rock ’n’ Roll.

«Kaliber» ist der zweitletzte (und der erste auf Deutsch aufgelegte) Roman einer sieben-teiligen Reihe mit Detective Sergeant Tom Brant und Chief Inspector James Roberts von der Londoner Polizei (erschienen 1998 bis 2007). Brant, ein durchtriebener, dreister Cop der ganz groben Art, und Roberts, ein feinfühliger Schwuler mit Stil, sind da unter anderem mit dem «Manieren-Mörder» konfrontiert, der unanständige Leute umbringt und sich nach Lou Ford, der psychopathischen Hauptfigur in Jim Thompsons «The Killer Inside Me», Ford nennt und dessen Bücherregal «eine einzige Hommage an den Pulp» ist. Aber der eigentliche Plot ist, wie bei den meisten herausragenden Krimis, eher zweitrangig. Während der Mörder auf Thompson abfährt, steht der Cop auf die Polizeiromane von Ed McBain. Doch im Grunde, in der Tiefe ihrer Seelen, unterscheiden sich die beiden letztlich nicht gross voneinander.
Ein wunderbares Buch. Rasant und rabenschwarz, irrwitzig und intelligent, hochkomisch und hinterfotzig.
Mehr davon, mehr, mehr, mehr!

PS
Der Roman hat gleich auch den neuen Untertitel zu diesem Blog geliefert. Danke! 

Der Autor
Ken Bruen, *1951 in Galway, Irland, ist im deutschen Sprachraum vor allem für seine Jack-Taylor-Serie (übersetzt von Harry Rowohlt, Atrium Verlag) bekannt. Sehr lesenswert sind aber auch die drei zusammen mit dem amerikanischen Autor Jason Starr geschriebenen Romane um Max Fischer und Angela Petrakos (drei Romane von 2006 bis 2008; Deutsch bei Rotbuch) und überhaupt alles, was er geschrieben hat und noch schreibt. Alles sehr schwarz, sehr witzig, sehr gescheit.

Der letzte Satz

«Haben Sie denn keine Manieren?»