21.12.2011

Don Winslow: «Zeit des Zorns»

(«Savages», Simon & Schuster, Inc.,
New York, 2010)
Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
2011, Suhrkamp, 338 Seiten

****½

Der erste Satz
Fickt euch.

Das Buch
In seinem aktuellen Roman greift Don Winslow quasi eine Randanekdote seines ebenso brillanten wie monströsen Drogenkriegs-Epos «Tage der Toten» (im Original bereits 2005 erschienen, deutsch erst 2010) heraus und entwickelt darauf einen eigenen schnellen, schrägen Roman. Die kalifornischen Sonnyboys Ben und Chon produzieren das beste Hydro-Gras und machen damit ein gutes Geschäft. Ben tut zudem mit seinen Gewinnen Gutes in der Dritten Welt. Das Leben ist schön und macht Spass. Bis per Mail ein Clip eintrifft:

Eine Kamera schwenkt über eine Reihe von neun abgetrennten Köpfen, die in einer Lagerhalle auf dem Boden aufgereiht liegen. (…) Dann fährt die Kamera an der Wand hinauf, wo die Leiber der Enthaupteten an Haken hängen.

Nachdem das Baja-Kartell so den Tarif durchgegeben hat, kommen ein Anwalt und ein Buchhalter, beide in Armani-Anzügen, vorbei und erklären, wie es weiter geht: Ben und Chon produzieren ab sofort für das Kartell, das sie dafür bezahlt. Ben und Chon denken nicht daran – lieber steigen sie aus dem Geschäft aus. Das erlaubt das Kartell aber nicht. Und entführt Ben und Chons Freundin Ophelia. Drei Jahre sollen Ben und Chon das Kartell beliefern, in dessen Gewalt derweil das Mädchen bleibt. Oder sie bezahlen 20 Millionen Dollar. Um die Kohle zu beschaffen, beginnen Ben und Chon Geldtransporte des Kartells zu überfallen, und es entwickelt sich eine wüster Krieg, der im Lauf der Geschichte immer brutaler wird.
Don Winslow erzählt diese Geschichte rasant in 290 Kapiteln auf 338 Seiten; das kürzeste Kapitel ist oben (Der erste Satz) komplett zitiert, ein anderes lautet zum Beispiel:

Wenn man zulässt, dass einen die Leute für schwach halten, muss man sie früher oder später töten.

Überhaupt zieht Winslow hier für das Genre eher ungewöhnliche stilistische Register. Sätze kommen teils in Stakkato daher, ein bisschen wie gerappt, andere enden im Nichts, ganze Abschnitte wirken wie reimlose Verse. Und das Ganze ist gespickt mit sarkastischen und bitterbösen Betrachtungen und Exkursen über Politik und das heutige Leben überhaupt. Kleine Kostprobe:

Vor nicht allzu langer Zeit waren die Republikaner Gegenstand der Angst und des Hasses – jetzt sind sie bloss noch jämmerliche Arschlöcher. Barry ist in den gegnerischen Raum gedribbelt und hat kurzen Prozess mit ihnen gemacht (O-BAM-a!). Jetzt laufen sie rum wie weisse Verbindungsstudenten in Bedford-Stuyvesant, die auf harte Macker machen, um zu beweisen, dass sie keine Angst haben, obwohl ihnen gleichzeitig schon der Urin aus den Chinohosen in die Ziegenlederschuhe läuft. (…)
Natürlich werden die Demokraten eine völlig abseitige Möglichkeit finden, kurz vor der Torlinie doch noch abzukacken; das tun sie immer («Wie war dein Name noch mal, Schätzchen? Monica?»). In der Zwischenzeit kann Chon es aber kaum abwarten – kann es nicht abwarten –, bis der unvermeidliche Moment eintritt und sich eine dieser Witzfiguren an einem eingeschalteten Mikrophon verschluckt und Obama als «Nigger» bezeichnet. Es wird passieren, jeder weiss, dass es passieren wird, es ist nur eine Frage der Zeit, und wenn’s so weit ist, wird der Ausdruck auf dem dämlichen Käsegesicht des Betreffenden rasend komisch anzusehen sein, wenn er nämlich kapiert, dass seine Karriere toter ist als die Kennedys.

Sicher kein Buch nach jedermanns Geschmack. Aber sackstark. Ein Kompliment gebührt der – viel beschäftigten – Übersetzerin, die es bravourös schaffte, Winslows Sätze in ein adäquates Deutsch zu übertragen.

Der Autor
Don Winslow, *1953 in New York City, veröffentlicht seit 20 Jahren Romane. 2010 erschien auf Deutsch sein opus magnum «Tage der Toten» (*****, Suhrkamp; «The Power of the Dog», 2005). Sehr empfehlenswert sind auch seine witzigen Surfer-Krimis «Pacific Private» (****, 2009 Suhrkamp; «The Dawn Patrol», 2008) und «Pacific Paradise» (****, 2010, Suhrkamp; «The Gentlemen’s Hour», 2009). 2011 veröffentlichte er «Satori» (***1/2, Heyne), eine Fortsetzung von Trevanians Roman «Shibumi» (***1/2, 2011, Heyne; 1979), den er im Auftrag der Erben von Trevanian (Rodney William Whitaker) geschrieben hatte. Winslow lebt in Kalifornien.

Der letzte Satz
Wunderwunderschöne Wilde.



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15.12.2011

Elmore Leonard: «Dschibuti»

(«Djibouti», William Morrow, 2010)
Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
2011, Eichborn, 320 Seiten

*

Der erste Satz
Xavier beobachtete zwei Legionäre.

Das Buch
Es ist lange her, seit ich das letzte Mal ein Buch nicht zu Ende gelesen habe. Beim neuen Roman des Veteranen Elmore Leonard schaffte ich trotz zwei Anläufen nur 126 von 320 Seiten. Ich hab mich dabei furchtbar gelangweilt. Selbst die weniger guten älteren Romane von Leonard haben wenigstens einen gewissen Unterhaltungswert. Dieser nicht. Die Geschichte um eine amerikanische Dokumentarfilmerin, die einen Film über die modernen Piraten vor der somalischen Küste dreht, kommt einfach nicht vom Fleck. Dafür gibts viel Klischeehaftes über Moslems. Von einer «rasanten Handlung» aber, wie sie der Verlag auf der Klappe verspricht, findet sich im ersten Drittel des Buches keine Spur. Und so sparte ich mir den Rest.

Der Autor
Elmore Leonard, *1925, hat ein paar Dutzend Romane geschrieben, vorwiegende Krimis, aber auch Western. Viele sind erfolgreich verfilmt worden, etwa «Valdez is Coming» (1970; verflimt 1971 mit Burt Lancaster), «Get Shorty» (1990; verfilmt 1995 mit Danny DeVito) und «Out of Sight» (1996; verfilmt 1998 von Steven Soderbergh mit George Clooney und Jennifer Lopez). Die britische Zeitung «The Times» kürte Leonard zum fünftbesten Krimiautor aller Zeiten (hinter Patricia Highsmith, Georges Simenon, Agatha Christie, Raymond Chandler).

Der letzte Satz
«Sieht so aus.»

14.12.2011

Urban Waite: «Schreckensbleich»

(«The Terror of Living»,
Little, Brown and Company, 2011)
Aus dem Amerikanischen
von Marie-Luise Bezzenberger
2011, Knaur Taschenbuch Verlag, 363 Seiten

***½

Der erste Satz
Der Junge hatte von Seattle aus einen Bus nach Norden genommen. 

Das Buch
Der Junge, der von Seattle aus einen Bus nach Norden genommen hat, wird nicht alt. Er wird vom ehrgeizigen Deputy Bob Drake, der in seiner Freizeit in den Bergen nahe der kanadischen Grenze Jagd auf Drogenschmuggler macht, erschossen. Phil Hunt, mit dem der Junge unterwegs ist, entkommt. Aber ohne die Drogen. Hunt kennt Drakes Vater. Der war Sheriff. Und schmuggelte Drogen. Jetzt sitzt er. Und sein Sohn jagt Drogenschmuggler. Die Auftraggeber sind sauer, dass die Lieferung ausbleibt. Sie geben Hunt einen neuen Auftrag. Und hetzen ihm gleichzeitig einen Killer auf die Fersen: einen psychopathischen Metzger mit einem Koffer voller Messer.
«The Terror of Living» – auf Deutsch mit dem Idiotentitel «Schreckensbleich» versehen – ist ein starkes Debüt. Drake und Hunt sind subtil gezeichnete Figuren: Menschen, die es nicht leicht hatten im harten Leben, aber eigentlich niemandem Schlechtes wollen. Manchmal wird der Roman da etwas pathetisch. Kontrastiert wird das durch wüste Schlachterszenen, wenn der Killer zur Tat schreitet. Ich bin gespannt, wie sich Urban Waite weiterentwickeln wird.

Der Autor
Urban Waite, *1980, studierte Mathematik und Naturwissenschaften. Er lebt in Seattle, wo er auch aufgewachsen ist. «The Terror of Living» ist sein erster Roman. 

Der letzte Satz
Er sah, wie der Truck vom Parkplatz fuhr und die Strasse hinaufrollte, und als er ausser Sicht war, liess er den Motor an, wendete und fuhr zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.


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12.12.2011

Ian Rankin: «Die Sünden der Gerechten»



(«The Impossible Dead», Orion, 2011)
Aus dem Englischen von Conny Lösch
2011, Manhattan, 511 Seiten

****

Der erste Satz
«Der ist nicht da», sagte der Beamte am Empfang.


Das Buch
Dass diejenigen, die sie sich vorknöpfen wollen, nicht gleich greifbar sind, ist für Malcolm Fox und seine Kollegen von der Abteilung für interne Ermittlungen Alltag. Dass sie von anderen Polizisten als Verräter und Nestbeschmutzer beschimpft werden ebenso. Im aktuellen Fall in der schottischen Provinz geht es eigentlich «nur» darum, ob die Kollegen für einen wegen Korruption verurteilten Kriminalbeamten gelogen haben. Dass derjenige, der den Polizisten angezeigt hat, erschossen aufgefunden wird, ist nur eine Ausweitung des Falls. Die andere führt zurück in die Jahre, als schottische Separatisten mit Terroranschlägen auf sich aufmerksam machten – und von da wieder in die Gegenwart, in Politik, Wirtschaft und in die Chefetage der Polizei.
Nach «Ein reines Gewissen» (****; 2010; «The Complaints») ist dies Rankins zweiter Roman um den internen Ermittler Fox. Wie schon bei der famosen Serie um Inspector Rebus fasziniert auch hier wie Ian Rankin die Protagonisten und die Welt, in der sie leben, zeichnet und wie er es versteht, gesellschaftliche Gegebenheiten aller Art wie beiläufig einzuflechten, fast mehr als der eigentliche Plot. Wie er dabei die Story durchgehend spannend hält und ihr immer wieder überraschende Wendungen gibt, ist meisterhaft.

Der Autor
Ian Rankin, *1960, hat sich mit seiner 17 Romane umfassenden Serie um den Edinburgher Inspector John Rebus (absolut empfehlenswert!) in die erste Liga der britischen Autoren geschrieben. Er hat bisher mehr als zwei Dutzend Romane veröffentlich, darunter drei unter der Pseudonym Jack Harvey (auf Deutsch bei Goldmann).

Der letzte Satz
Also schraubte Fox die Kappe von der Whiskeyflasche und schenkte nach.


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