07.08.2017

Hari Kunzru – White Tears


(«White Tears», Alfred A. Knopf, New York 2017). 

Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner 

Liebeskind, München 2017, 350 Seiten



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Der erste Satz
In jenem Sommer fuhr ich häufig mit dem Fahrrad über die Brücke, schloss es vor einer der Bars in der Orchid Street an und lief quer durch die Stadt, um alles Mögliche aufzunehmen.

Das Buch
Seth und Carter sind jung, stehen aber auf Musik, die alt ist oder alt klingt. Sie betreiben zusammen ein Tonstudio in New York. Seth, der Technikfreak und Soundtüftler, ist ein introvertierter Nerd. Der charmante Carter, der alte Bluesaufnahmen sammelt, stammt aus einer steinreichen Familie. Sein Bruder, der sich finanziell am Tonstudio beteiligt, leitet den neusten boomenden Geschäftszweig der Familie: Gefängnisse. Aus einem von Seth zufällig in einem Park aufgenommenen Fragment machen die beiden einen Bluessong, der klingt wie von einer alten Schellackplatte. Sie schreiben den Track einem fiktiven Charlie Shaw zu und stellen ihn ins Internet.
Das ist die Ausgangslage von «White Tears», dem neuen Roman von Hari Kunrzu. Der Brite ist nicht als Krimiautor bekannt, sondern als hipper Romancier. «White Tears» ist auch nicht wirklich ein Krimi, aber ein spannender Roman, der auch mit Thriller-Elementen fesselt, und Mord und Totschlag gibt es darin ebenfalls. Was als scheinbar lockere Hipster-Story im heutigen New York beginnt, wird zu einer fiebrigen Spurensuche im Süden der USA. Die Epochen beginnen ineinander zu fliessen, und tief in der Historie zeigt sich, dass der Reichtum von Carters Familie auf der Sklaverei basiert. Der alte Blues, dem Carter nachspürt, hat im Roman natürlich eine metaphorische Bedeutung. «Blues ist die Archäologie des American dream», schrieb der amerikanische Schriftsteller und Kritiker Steve Erickson, «in Hari Kunzrus neuem Roman stellt der Blues – die aus der Sklaverei geborene Musik – die Ausgrabung eines Versprechens dar, welches das Land in dem Moment brach, als das Versprechen gemacht wurde.»
Der Song, den Seth und Carter ins Netz gestellt haben, versetzt die Bluessammler in Aufregung. Das amüsiert Carter zunächst. Doch laut einem alten Sammler gibt oder gab es den Charlie Shaw, dem sie die Aufnahme zugeschrieben haben, wirklich. Er erzählt von einer Suche nach Shaw, auf der er als junger Mann einen damals alten Sammler am Mississippi begleitete. Als Carter unter mysteriösen Umständen ins Koma geprügelt wird, wandelt sich der launige Fake zum bedrohlichen Fakt. Da will Seth zurückgehen «an den Punkt, von dem aus die Macht der Geschichte nach uns greift». Zusammen mit Carters Schwester macht er sich auf in den Süden, auf die Spuren von Charlie Shaw.
In dieser Reise in die Vergangenheit zeigt sich die Erzählkunst Kunzrus eindrücklich. Die Geschichte entwickelt einen wahren Sog, der einen mitreisst in einen wilden Strudel von Ereignissen und Vorstellungen zwischen Gestern und Heute, zwischen Wahn und Wirklichkeit. Mit ungestümer Fabulierlust bringt Kunzru in seiner zwar düsteren, aber auch turbulenten Geschichte eine ganze Reihe von gesellschaftlichen und individuellen Themen auf. So geht es etwa um Rassismus und Ausbeutung. Um Macht und Machtlosigkeit. Und irgendwie wird das Anhören alter Schallplatten zu einer Metapher für das Leben: «Die Nadel bewegt sich in einer vorgegebenen Bahn. Früher oder später wird sie auf die Auslaufrille treffen.»

Der Autor

Hari Kunzru, 1969 in London geboren als Sohn einer Engländerin und eines Inders, ist aufgewachsen in Essex. Er studierte Englisch an der Oxford University und schloss an der Warwick University in Philosophie und Literatur ab. Als Journalist arbeitete er für englische und internationale Zeitungen und Zeitschriften wie «The Guardian», «Wired» und «Wallpaper». Seit 2008 veröffentlichte er acht Bücher, fünf davon sind ins Deutsche übersetzt. Hari Kunzru ist verheiratet mit der amerikanischen Schriftstellerin Katie Kitamura und lebt in New York.

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