(«White Tears», Alfred A. Knopf, New York 2017).
Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Liebeskind, München 2017, 350 Seiten
****
Der erste Satz
In jenem Sommer fuhr ich häufig mit dem Fahrrad über die Brücke, schloss
es vor einer der Bars in der Orchid Street an und lief quer durch die Stadt, um
alles Mögliche aufzunehmen.
Das Buch
Seth und Carter sind
jung, stehen aber auf Musik, die alt ist oder alt klingt. Sie betreiben
zusammen ein Tonstudio in New York. Seth, der Technikfreak und Soundtüftler,
ist ein introvertierter Nerd. Der charmante Carter, der alte Bluesaufnahmen
sammelt, stammt aus einer steinreichen Familie. Sein Bruder, der sich finanziell
am Tonstudio beteiligt, leitet den neusten boomenden Geschäftszweig der
Familie: Gefängnisse. Aus einem von Seth zufällig in einem Park aufgenommenen
Fragment machen die beiden einen Bluessong, der klingt wie von einer alten
Schellackplatte. Sie schreiben den Track einem fiktiven Charlie Shaw zu und
stellen ihn ins Internet.
Das ist die Ausgangslage
von «White Tears», dem neuen Roman von Hari Kunrzu. Der Brite ist nicht als
Krimiautor bekannt, sondern als hipper Romancier. «White Tears» ist auch nicht
wirklich ein Krimi, aber ein spannender Roman, der auch mit Thriller-Elementen fesselt,
und Mord und Totschlag gibt es darin ebenfalls. Was als scheinbar lockere
Hipster-Story im heutigen New York beginnt, wird zu einer fiebrigen Spurensuche
im Süden der USA. Die Epochen beginnen ineinander zu fliessen, und tief in der
Historie zeigt sich, dass der Reichtum von Carters Familie auf der Sklaverei
basiert. Der alte Blues, dem Carter nachspürt, hat im Roman natürlich eine
metaphorische Bedeutung. «Blues ist die Archäologie des American dream»,
schrieb der amerikanische Schriftsteller und Kritiker Steve Erickson, «in Hari
Kunzrus neuem Roman stellt der Blues – die aus der Sklaverei geborene Musik –
die Ausgrabung eines Versprechens dar, welches das Land in dem Moment brach,
als das Versprechen gemacht wurde.»
Der Song, den Seth und
Carter ins Netz gestellt haben, versetzt die Bluessammler in Aufregung. Das
amüsiert Carter zunächst. Doch laut einem alten Sammler gibt oder gab es den
Charlie Shaw, dem sie die Aufnahme zugeschrieben haben, wirklich. Er erzählt
von einer Suche nach Shaw, auf der er als junger Mann einen damals alten Sammler
am Mississippi begleitete. Als Carter unter mysteriösen Umständen ins Koma
geprügelt wird, wandelt sich der launige Fake zum bedrohlichen Fakt. Da will
Seth zurückgehen «an den Punkt, von dem aus die Macht der Geschichte nach uns
greift». Zusammen mit Carters Schwester macht er sich auf in den Süden, auf die
Spuren von Charlie Shaw.
In dieser Reise in die
Vergangenheit zeigt sich die Erzählkunst Kunzrus eindrücklich. Die Geschichte entwickelt
einen wahren Sog, der einen mitreisst in einen wilden Strudel von Ereignissen
und Vorstellungen zwischen Gestern und Heute, zwischen Wahn und Wirklichkeit. Mit
ungestümer Fabulierlust bringt Kunzru in seiner zwar düsteren, aber auch
turbulenten Geschichte eine ganze Reihe von gesellschaftlichen und
individuellen Themen auf. So geht es etwa um Rassismus und Ausbeutung. Um Macht
und Machtlosigkeit. Und irgendwie wird das Anhören alter Schallplatten zu einer
Metapher für das Leben: «Die Nadel bewegt sich in einer vorgegebenen Bahn.
Früher oder später wird sie auf die Auslaufrille treffen.»
Der Autor
Hari Kunzru, 1969 in
London geboren als Sohn einer Engländerin und eines Inders, ist aufgewachsen in
Essex. Er studierte Englisch an der Oxford University und schloss an der
Warwick University in Philosophie und Literatur ab. Als Journalist arbeitete er
für englische und internationale Zeitungen und Zeitschriften wie «The
Guardian», «Wired» und «Wallpaper». Seit 2008 veröffentlichte er acht Bücher,
fünf davon sind ins Deutsche übersetzt. Hari Kunzru ist verheiratet mit der
amerikanischen Schriftstellerin Katie Kitamura und lebt in New York.
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