05.04.2016

Ryan Gattis – In den Strassen die Wut

(«All Involved», HarperCollins Publishers, New York, 2015)

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

2016, Rowohlt Polaris, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 526 Seiten


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Der erste Satz
Ich bin in Lynwood, South Central, irgendwo Nähe Atlantic Avenue und Olanda Street, decke Tabletts voll ungegessener Bohnen mit Alufolie ab, irgendein Kindergeburtstag, und da kriege ich gesagt, ich soll früh Feierabend machen und morgen wohl gar nicht zur Arbeit kommen.

Das Buch
Ernesto ist der erste von insgesamt 17 Ich-Erzählern, die in Ryan Gattis’ furiosem Thriller «In den Strassen die Wut» von ihren Erlebnissen in den sechs Tagen im Jahr 1992, in welchen weite Teile von Los Angeles zu einem Bürgerkriegsschauplatz wurden, erzählen. Die Erzähler sind mehrheitlich Mitglieder von Latino-Gangs, aber auch eine Krankenschwester, ein Feuerwehrmann, ein Graffiti-Sprayer, der anonyme Leiter eines Sondereinsatzkommandos und andere. Teils werden die gleichen Ereignisse so aus verschiedenen Sichtweisen dargestellt, teils streifen oder kreuzen sich die Geschichten nur, aber alle hängen irgendwie mit anderen zusammen und tragen etwas zum gesamten Bild bei.
Der brave Ernesto wird auf dem Heimweg von der Arbeit von einer Latino-Gang, mit der sich sein schlimmer Bruder angelegt hat, angegriffen und getötet. Seine Schwester schwört Rache, und die Umstände stehen gut dafür.
Es sind die Tage nach dem Rodney-King-Urteil (Polizisten, die den Schwarzen Rodney King misshandelt hatten, wurden freigesprochen), das zu gewalttätigen Protesten führte, die als die «grössten Rassenunruhen» in Los Angeles in die Geschichte eingingen. Die Polizei konnte trotz Unterstützung der Nationalgarde nur an den wenigsten Brennpunkten eingreifen, und dies benutzten viele, denen es nicht um den Protest gegen eine rassistische Justiz und Polizei ging, um weitgehend unbehelligt ihr eigenes Unwesen zu treiben. Plündern. Offene Rechnungen begleichen. So zum Beispiel die Latino-Gangs. In Gattis’ Roman wird dies Gang-Boss Big Fate angesichts der TV-Bilder schnell klar:

Und diese ganzen Bilder sagen mir das Gleiche wie allen anderen Idioten in dieser ganzen Stadt, die je einen bösen Gedanken im Kopf hatten: Verdammt, jetzt ist dein Tag, Homie. Felicidades, du hast im Lotto gewonnen
Geh raus und spiel verrückt, sagen die Bilder. Nimm dir, was du kriegen kannst, sagen sie. Wenn du böse und stark genug bist, dann komm raus und nimm es dir.
(…) Marken haben nichts zu sagen. Denn heute gehört die Stadt nicht den Cops. Heute gehört sie uns.

Und so ziehen sie dann los in die Schlacht.
Gattis’ Geschichte mag zwar fiktiv sein, sie ist aber höchst realistisch: Sie beruht auf umfangreichen Recherchen bis ins Gang-Milieu. Jeder Ich-Erzähler hat seinen ganz eigenen Ton, und aus diesen Fragmenten entsteht ein monströses Panoptikum der Gewalt. Bis auf zwei, drei kleinere Längen vermag der über 500 Seiten fette Wälzer durchgehend zu packen. Ein eindrückliches Werk.

Der Autor
Ryan Gattis, *ca. 1978 in Illinois, aufgewachsen in Colorado, studierte Creative Writing an der Chapman University in Kalifornien und an der East Anglia University in Norwich, England. Er veröffentlichte seit 2004 mehrere Romane, die nicht auf Deutsch erschienen sind, lebte in Kalifornien, England, Australien und Japan, lehrte während fast zehn Jahren Creative Writing an der Chapman University. «All Involved» ist sein erstes Buch, das international erfolgreich ist; HBO kaufte die Rechte, um daraus eine TV-Serie zu machen. Gattis lebt mit seiner Frau in Los Angeles, wo er der Street-Art-Gruppe UGLAR Works angehört und Gründungsmitglied von 1888, einer kalifornischen Organisation, die sich für das kulturelle Erbe engagiert, ist.

Der letzte Satz
Er wird immer weiterlaufen, egal was passiert, und er wird sich durch diese Flammen kämpfen und auf der anderen Seite herauskommen, ganz kaputt und schön und neu.


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