(«The Whites», 2015, Henry Holt & Company, New York)
Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow
2015, S. Fischer, Frankfurt am Main, 427 Seiten
****1/2
Der erste Satz
Als Billy Graves auf seinem Weg zur Arbeit die Second Avenue
runterfuhr, ärgerten ihn die vielen Menschen: morgens Viertel nach eins, und
noch immer drängten weit mehr Leute in die Bars, als rauskamen, und mussten
sich in beide Richtungen durch wogende Knäuel angesoffener Raucher wühlen, die
direkt vor den Eingängen standen.
Das Buch
Billy Graves schiebt Nachtschicht als Detective der New
Yorker Polizei.
Es gab echte Draufgänger, selbst im Nachtdienst, aber zu
denen gehörte Billy nicht. Er hoffte eigentlich immer, dass im nächtlichen
Chaos von Manhattan für sein Team nichts Ernstes anfiel, nur Kleinscheiss, den
man der Streife rüberschieben kann.
(…)
Er war zwar erst zweiundvierzig, aber sein
Knitterzellophanblick gepaart mit einer exquisiten Schlaflosenpose hatte ihm
schon mal eine Seniorenermässigung fürs Kino eingebracht. Der Mensch war nicht
dazu gemacht, erst nach Mitternacht mit der Arbeit anzufangen – Ende der
Durchsage, scheiss auf die Zuschläge.
Neben der zermürbenden Nachtarbeit machen Billy Graves
derzeit zwei Sachen schwer zu schaffen. Einerseits ist da eine Gruppe von
Freunden, alles ehemaligen Kollegen, mit denen er sich regelmässig trifft.
Jeder von ihnen hat seinen Dämon, der ihm nie aus dem Kopf geht: einen
Mörder, bei dem die zulässigen Beweise nicht dafür reichten, ihn hinter Gitter
zu bringen. Und nun werden diese «Unantastbaren», einer nach dem anderen, aus dem
Verkehr gezogen. Üben seine Freunde Selbstjustiz? Wie soll er darauf reagieren?
Andererseits werden Billy und seine Familie von einem Stalker heimgesucht,
einem Polizisten, dessen Geschichte in parallelen Kapiteln erzählt wird.
Price pflegt einen harten, realistischen Stil, gepaart mit
schwarzem Humor, allerhand Situationskomik und präzisen Dialogen.
Die Nacht entwickelte sich zu einer weiteren Nullrunde, der
einzige Einsatz bisher führte um vier Uhr früh an einen Aussentatort im West
Village, wo ein Hausbesitzer im Garten von seinem Rasenmäher angeschossen
worden war. Die scharfe 357er-Patrone, die zuvor im Gras geschlummert hatte, war
von den Rotorblättern angesogen und gezündet worden und dann aus dem hinteren
Teil des Geräts in seine Eier gefeuert.
Als Billy und Stupak am Tatort eintrafen – Schüsse waren nun
mal Schüsse –, durchkämmten die Sprengstoffexperten bereits den Garten nach
weiteren Blindgängern, und irgendein Witzbold hatte den Luxusrasenmäher mit
Handschellen an eine Laterne gekettet.
«Wer bitte schön mäht denn um vier Uhr morgens seinen
Scheissrasen», fragte der Schichtführer.
«Mich persönlich würde ja mal interessieren, wie die Patrone
überhaupt in seinen Garten gelangt ist.» Billy gähnte. «Irgendwelche
Anhaltspunkte?»
«Wir hatten letzten Monat Probleme mit irgendwelchen
Primaten aus New Jersey, aber nichts mit Waffen.»
Das ist die Art von Alltag bzw. Allnacht, in der Billy
Graves steckt, während er wegen der Abgänge der Unantastbaren in einem
moralischen Dilemma steckt und der unheimliche Stalker den Druck verstärkt.
Richard Price ist ein grossartiger Roman gelungen, der
unglaublich spannend und witzig ist, jedoch gleichzeitig gewichtige Fragen um
Recht und Gerechtigkeit, um Schuld und Rache, um Verantwortung und Moral
aufwirft, ohne aber simple Antworten darauf zu haben oder gar zu moralisieren.
Der Autor
Richard Price, *1949 in New York City, ist in einer Sozialsiedlung
in der Bronx aufgewachsen. 1974 erschien seit erster Roman «The Wanderers» über
eine Jugendgang in der Bronx (1979 von Philip Kaufman verfilmt). Price
veröffentlichte seither mehrere Romane, mehrheitlich Polizeigeschichten, und
schrieb Drehbücher für bekannte Filme wie «The Color of Money» (1986; Regie:
Martin Scorsese), «Sea of Love» (1989; Regie: Harold Becker) und «Shaft» (2000;
Regie: John Singleton) sowie für mehre Folgen der Polizei-Serie «The Wire».
Der letzte Satz
Sie betrachtete ihn
ausdruckslos, und Billy war sich unsicher, ob sie ihn nicht verstanden hatte,
oder ob es ihr egal war; dennoch so fand er, war es ein ganz passables Happy
End.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen