(«Battues», Editions Ecorce, La Croisille-sur-Briance 2015)
Aus dem Französischen von Susanne Röckel
Penguin Verlag/Random House, München 2017, 302 Seiten
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Der erste Satz
«Als ich geboren wurde, war R. noch eine Stadt.»
Das Buch
Wäre «Die Treibjagd» ein
amerikanischer Roman, würde er als «Country Noir» bezeichnet. Hinter
amerikanischen Grössen des Genres muss sich der Franzose Antonin Varenne mit
seinem siebten Roman keineswegs verstecken. «Battues», wie das Buch im Original
heisst, «Geschlagene», hat auch etwas von einem Western. Zwei verfeindete
Familien herrschen über die Stadt in der Region Limousin im französischen
Zentralmassiv, die nur als R. bezeichnet wird; ehemalige Bauernfamilien, die
ihr Reich durch Zukäufe stetig vergrösserten. Den Courbiers gehören die Wälder,
den Messenets das Landwirtschaftsgebiet. Und dazwischen steht Rémi Parrot, der
Revierjäger (Wildhüter, würden wir in der Schweiz sagen), der seit einem Unfall
in seiner Jugend entstellt ist und quasi den lonesome Cowboy gibt.
Es ist ein trostloser
Ort, der schon bessere Zeiten gesehen hat: «Die Hälfte der Häuser steht leer,
alles ist heruntergekommen, die Geschäfte in der Hauptstrasse wechseln jedes
Jahr den Besitzer, und die Hälfte der Läden steht zum Verkauf. Die Bevölkerung
muss die älteste von ganz Europa sein, und die Jungen versammeln sich zum
Komasaufen. Sie raufen sich nicht mehr, sie hängen sich am nächsten Baum auf.»
Ausländer leben keine hier, doch bei den Wahlen erreicht der Rassismus «einen
guten nationalen Mittelwert». Als Sündenböcke dienen die Zigeuner, die in einem
Lager ausserhalb des Städtchens campieren, und gerne auch die Umweltaktivisten
auf dem nahen Hochplateau. Das Verschwinden eines der Letzteren bringt eine
Dynamik in Gang. Es gibt Morde, die Zellstofffabrik der Courbiers brennt
nieder, ein illegales Atommülllager wird entdeckt, und es stellt sich heraus,
dass die vermeintlich verfeindeten Familien im Naturparkgebiet auf dem Plateau
gemeinsam ein gigantisches Tourismusprojekt planen. Dass bei der grossen
Treibjagd auf Rémi geschossen wird, ist sicher kein Versehen; es kommen mehrere
Verdächtige in Frage. Vielleicht der Bruder von Michèle Messenet, die laut Rémi
«zu schön für diesen Ort» ist, aber nach Jahren zurückgekehrt ist und sich
wieder mit ihrer alten Liebe Rémi trifft.
Varenne erzählt
kraftvoll, aber angenehm unaufgeregt. Mit der Verschachtelung des zeitlichen
Ablaufs steigert er die Spannung, ohne dafür simple Tricks zu brauchen. Die
archaische Geschichte um Schuld und Sühne ist allgemein gültig, sie könnte
irgendwo spielen. Doch die Verankerung in einem realistischen regionalen
Setting – Varenne lebt in der Gegend, die er ebenso einfühlsam wie schonungslos
zu beschreiben versteht – gibt ihr erst die Authentizität, die sie wirklich
bewegend macht. Dass die Beziehung zwischen Rémi und Michèle auch noch eine
herzergreifende Liebesgeschichte liefert, schadet dem Roman in keiner Weise.
Die Protagonisten sind vielschichtig, bedienen keine simplen Klischees. Es gibt
nicht einfach Gut und Böse, das sich klar voneinander unterscheidet. Rémi Parrot
ist zwar der Good Guy, doch Commandant Vanberten, ein Auswärtiger – «Auch wenn
er seit hundert Jahren hier lebte, Alkoholiker geworden war und zehnmal den ‹Grossen
Wettbewerb der Kartoffelesser› gewonnen hatte, würde er nie als
Einheimischer gelten.» – und wahrscheinlich der einzige nicht korrupte Mensch
in diesem Tal, kommt zum Schluss: «Nicht anders
als Ihre Mitmenschen hier kennen Sie keine Gerechtigkeit, Monsieur Parrot, nur
Rache.»
Der Autor
Antonin Varenne, geboren
1973 in Paris, studierte in Paris Philosophie. Er soll als Hochhauskletterer
und Zimmermann tätig gewesen sein, lebte in Island, Mexiko und in den USA. Seit
2006 veröffentlichte er neun Bücher; auf Deutsch erschienen sind vor «Die
Treibjagd» «Fakire» («Fakirs»; Ullstein, 2011) und «Die sieben Leben des Arthur
Bowman» («Trois mille chevaux vapeur»; C. Bertelsmann, 2015). Varenne lebt im Departement
Creuse – in der Gegend, in der «Die Treibjagd» spielt.
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